Die Modeindustrie gilt nicht eben als ökologisch. Das Scale-up Retraced will das ändern und ist mit Lieferkettentransparenz und…
Vor sechs Jahren hat WHU-Absolvent Lukas Pünder (MSc 2017) zusammen mit seinem Co-Gründer Philipp G. Mayer die digitale Plattform Retraced für die Modeindustrie gegründet. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen mit Sitz in Düsseldorf fast 80 Mitarbeitende, betreut 140 Kunden mit 160 Marken in insgesamt 23 Ländern, vor allem in den USA, Europa und Asien. Mit uns spricht Pünder über Nachhaltigkeitsmanagement in der Modebranche, seinen Weg zum eigenen Start-up und den CO2-Fußabdruck eines Pullovers.
1. Kunstfasern aus Erdöl, eine miserable CO2-Bilanz, schlechte Arbeitsbedingungen – die Modebranche hat oft den Ruf, besonders umwelt- und klimaschädlich zu sein. Wie kann euer Unternehmen helfen, das zu ändern?
Ziel unserer Plattform ist es, sowohl Lieferkettentransparenz als auch Nachhaltigkeitsmanagement für Firmen aus der Branche zu digitalisieren und damit effizienter und effektiver zu machen. Die meisten Probleme, mit denen Modeunternehmen in Bezug auf ihre Nachhaltigkeitsbemühungen zu kämpfen haben, sind Intransparenz und Ineffektivität. Die Art, wie Marken und Lieferanten miteinander kommunizieren, ist in den meisten Fällen entweder veraltet oder zu manuell.
Indem wir Marken und Lieferanten auf unserer Plattform zusammenbringen, entsteht ein Netzwerkeffekt, von dem alle profitieren. Wir sammeln die Daten entlang der Lieferkette und werten sie aus. Anhand der Ergebnisse schlagen wir verschiedene Verbesserungs- und Korrekturmaßnahmen vor – das können soziale Themen, aber auch Umweltthemen sein, zum Beispiel Arbeitsschutzmaßnahmen, Bezahlung, Krankenversicherungen für Mitarbeitende in Fabriken, aber eben auch Themen wir Wasser- und Energieverbrauch, Biodiversität, Tierschutz, etc.
2. Wie funktioniert eure Software-Lösung konkret?
Grundsätzlich findet alles auf drei verschiedenen Datenebenen statt: Wir haben die Lieferkettenebene, die Lieferanten selbst – dazu gehört, was in der Fabrik passiert, also die Produktion – und auf dritter Ebene haben wir das Produkt. Unser Geheimrezept ist es, all die Daten dieser drei Ebenen so miteinander zu kombinieren, dass wir alle für das jeweilige Unternehmen relevanten Nachhaltigkeits- und Compliance-Herausforderungen erschließen und verwendbar machen können.
Ein Beispiel dazu wäre schön…
Nehmen wir an, wir haben einen Pullover als Marke produziert. Wir kennen die Lieferanten, wir sammeln Daten zu Energieverbrauch, Energiequelle und Produktionskapazitäten, verbinden diese Lieferketten mit dem einzelnen Produkt und können dann auf Artikelebene beispielsweise folgende Fragen beantworten: Wie ist der CO2-Fußadbruck dieses Pullovers? Auf welcher Ebene entsteht er? Was ist das Transportmedium von Fabrik zu Fabrik? Auf diese Weise können wir für unsere Kunden ein umfassendes Paket an Daten sammeln und auswerten – und wenn der Kunde möchte, die Ergebnisse am Ende auch an die Verbraucher kommunizieren. Das funktioniert mit einem digitalen Produktpass, wie er in der Gesetzgebung genannt wird, einem QR-Code von Retraced, über den der Kunde alle Produktherkünfte und Zertifizierungen abrufen kann. In Frankreich ist das für einige größere Firmen bereits vorgeschrieben, in Europa soll ein entsprechendes Gesetz erst 2027 für große Marken in Kraft treten.
3. Du hast an der WHU studiert und dich in der Modeindustrie selbständig gemacht. Hattest du schon immer ein Faible für die Branche?
Nein, überhaupt nicht. Philipp und ich sind eher durch Zufall in dieser Branche gelandet. Er hat während seines Studiums in Mexico gelebt und wir haben mit dem Aufkommen des E-Commerce 2016 erstmal ausgefallene Schuhe aus Mexico vertrieben. Darüber sind wir zum Thema Nachhaltigkeit gekommen, weil das ein Kernversprechen unserer Marke war. Schon damals hatten wir aber große Probleme, unsere Daten aus der Lieferkette zu diesem Thema einzusammeln. Der Aufwand dafür wurde immer größer, also haben wir nach hilfreicher Software gesucht, aber nichts gefunden.
Wir haben mit vielen Marken gesprochen, die alle das gleiche Problem hatten, und mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz haben wir uns dann dazu entschlossen, selbst in diesem Bereich tätig zu werden. Im März 2019 haben wir dann zu dritt Retraced gegründet.
4. Am Anfang wart ihr zu dritt, mittlerweile habt ihr mehr als 75 Mitarbeitende, zahlreiche erfolgreiche Finanzierungsrunden hinter euch und Marken wie Victoria`s Secret, Calzedonia, Desigual, Marc O`Polo, Tom Tailor und S. Oliver zählen zu euren Kunden. Was ist eure Vision für die Zukunft?
Wir haben mittlerweile Kunden in 23 Ländern. Während der europäische Markt die zentrale Säule unseres Geschäfts bleibt, sieht die USA besonders vielversprechend aus. Europa macht 50 Prozent unseres Umsatzes aus, Asien und die USA die anderen 50 Prozent. Das gibt uns natürlich sehr viel globale Flexibilität, die es uns erlaubt, auf regionale Entwicklungen flexibel zu reagieren. In den USA wachsen wir zurzeit am schnellsten, weshalb unser Fokus aktuell auch auf diesem Markt liegt. Unser Ziel ist es, nicht nur in Europa Marktführer zu sein. Wir wollen in der Modeindustrie zum führenden Anbieter werden, auch international. Und wir wollen weiterhin wachsen.
5. Wie hat die Ausbildung an der WHU deinen Karriereweg beeinflusst?
Mein Wunsch, gründen zu wollen, hat sich erst während meiner Zeit an der WHU ergeben. Als ich mit dem Studium angefangen habe, hatte ich das überhaupt nicht geplant. Erst während meines Masters an der WHU hat sich dieser Gedanke verfestigt, bis ich aus dem Studium heraus 2016 die erste Firma gegründet habe, zusammen mit Philipp. Und natürlich ist ein Ergebnis meiner Zeit an der WHU heute auch der Kontakt, den ich zu anderen Gründer:innen pflege. Außerdem hilft uns der WHU-Hintergrund extrem im Kontakt mit Investoren.